Arbeiten Sie an sich – richtig (Stärkenorientierung Teil I)
Autor: Jürg Sutter, Schweiz
Von den Schwächen
„Ich bin sehr zufrieden mit Ihnen. Aber eine Ihrer Schwächen ist, dass Sie zu wenig auf die Menschen zugehen. Daran sollten Sie unbedingt arbeiten. Denn Sie wissen ja, wer in unserem Beruf nicht kommunikativ ist, wird keinen Erfolg haben.“
So oder ähnlich tönt es in nächster Zeit häufig anlässlich der alljährlich stattfindenden Mitarbeiter- oder Qualifikationsgespräche. Anhand von standardisierten Beurteilungskriterien werden die Mitarbeitenden bewertet, Förderungsmassnahmen beschlossen und Ziele vereinbart. Neben den quantitativen Zielsetzungen werden auch solche formuliert, welche zur persönlichen Entwicklung führen sollen. Erfahrungsgemäss liegt dabei der Fokus meistens in der Eliminierung einer festgestellten Schwäche.
Oft schicken Unternehmen ihre Mitarbeiter zu Ausbildungen, damit die Schwächen behoben werden. Dies ist manchmal notwendig und zweckmässig. Ehrlicherweise würde ich hier anstatt von Förderung eher von Schadenbegrenzung sprechen.
Die Schwächen ignorieren? Nein, sie müssen ihre Schwächen kennen, um nicht den Fehler zu begehen, eine Tätigkeit auszuüben, in welcher Ihre Schwäche eine Stärke sein sollte.
Konzentration auf Stärken
Ich behaupte: Nur durch die Konzentration auf Stärken erreicht der Mensch Spitzenleistungen, für sich und sein Unternehmen. Er ist selbstbewusster, zufriedener und erfolgreicher.
Die Wirtschaft kann in dieser Hinsicht vom Sport lernen: Sportler werden konsequent stärkenorientiert eingesetzt. Es käme keinem Fussballtrainer in den Sinn, einen guten Torhüter zum Stürmer auszubilden, nur weil er diese Disziplin nicht beherrscht oder man gerade einen Stürmer benötigt. Leider geschieht dies im Unternehmensalltag selten. Der beste Verkäufer wird Filialleiter, obwohl er nicht über offensichtliches Führungstalent verfügt. Ein Laborant erhält als zusätzliche Aufgabe die Betreuung der Telefon Hot-Line, obwohl er ein fachkompetenter aber eher introvertierter Mensch ist.
Was ist eine Stärke per Definition?
Es ist die regelmässig, perfekt und ohne grosse Energie erbrachte Leistung in einer Tätigkeit. Damit eine Tätigkeit eine Stärke sein kann, müssen Sie in der Lage sein, diese beständig zu leisten, ganz in ihr aufzugehen und sie wiederholt, glücklich und erfolgreich zu tun (FLOW*).
Dass exzellente Könner rundum perfekt sein müssen, ist eine der am weitesten verbreiteten Mythen. Die meisten „Spitzenkräfte“ haben grosse und viele Schwächen. Aber eben, sie haben ausgeprägte Stärken, meistens nur eine einzige. Und diese ist entscheidend.
Es geht darum, dass Sie Ihre Stärken im Ihrem Hauptaufgabengebiet ausleben können. Dass Sie hauptsächlich das tun, was Sie am besten können, ohne sich dabei zu quälen. Das soll nicht heissen, dass man nicht mit vollem Engagement bei der Sache ist. Nein, aber wenn Sie etwas wirklich können, dann sind Sie bei vollem Einsatz zu einer Spitzenleistung fähig. Und dies ist was zählt. Und was ist mit den Aufgaben, die einem weniger liegen? Hier muss man sich einfach bewusst sein, dass man viel mehr Energie und Zeit benötigt, sich viel mehr anstrengen muss, um ein gutes Resultat zu erzielen.
Die Gallup Institut hat die folgende Frage an 1,7 Millionen Mitarbeitende in 101 Unternehmungen gestellt: „Haben Sie bei Ihrer Arbeit die Gelegenheit, jeden Tag das zu tun, was Sie am besten können?“ Das Resultat ist schockierend: Nur 20 Prozent der Mitarbeitenden haben diese Frage mit JA beantwortet. Welch ein ungenutztes Potential an Fähigkeiten! Stellen Sie sich die Steigerung der Produktivität und der Rentabilität vor, wenn die Unternehmen diese Zahl verdoppeln könnten.
Sicher, es ist meistens nicht einfach Konzentration auf Stärken zu verwirklichen. Aber es ist hochwirksam. Wenn Stärken und Aufgaben übereinstimmen, so können wir von Spitzenleistungen sprechen. Diese werden nur dort realisierbar, wo Stärken vorhanden sind. Dort, wo ein Mensch seine Schwächen hat, können sie jedenfalls nicht erwartet werden.
Potential erkennen und ausschöpfen
In meiner Arbeit als Business-Coach stelle ich immer wieder fest, dass Mitarbeitende ihr wahres Potential in ihrer Freizeit ausleben und sich im Berufsleben mit „angezogener Handbremse“ bewegen. Sie engagieren sich mit grossem Einsatz für ihren Sportverein, bekleiden ein politisches Amt oder betreiben mit Leidenschaft und Durchhaltewillen ein aufwendiges Hobby. Oder sie quälen sich mit dem Fahrrad über einen Pass, trainieren für einen Marathonlauf. Oder Sie übernehmen Verantwortung, müssen Entscheidungen treffen, sich durchsetzen und kreative Lösungen für anstehende Probleme im Verein finden. Und dies alles ohne dafür Geld zu erhalten! Warum tun sie es? Weil sie das tun, was sie können. Weil sie es gerne tun, dafür Anerkennung erhalten und sich dank der Herausforderungen selber zu FLOW verhelfen.
Es lohnt sich für Vorgesetzte, seine Mitarbeiter nicht nur als Mit-Arbeiter und Arbeits-Kräfte zu sehen. Wenn sie sich zum Beispiel dafür interessieren, was diese Menschen in ihrer Freizeit tun, dann kann es durchaus sein, dass sie Überraschendes entdecken. Denn wir Menschen nehmen in unserem Leben die unterschiedlichsten Rollen war. Und in diesen Rollen zeigt sich oft ein unausgeschöpftes Potential von Talenten und Fähigkeiten, welches wir für den Beruf nutzen könnten.
Ein Beispiel: Ein kleiner, italienischer Lagerarbeiter berichtete anlässlich eines Workshops über sein grösstes Highlight: „Ich bin in einem Männerchor und habe einen Dirigentenkurs besucht. Als letzte Woche unser Dirigent krank war, musste ich den Chor dirigieren. Es ist erstaunlich gut gelaufen, obwohl ich sehr sehr nervös und aufgeregt war. Meine Sängerkollegen haben sogar applaudiert, was mir etwas peinlich war.“ Alle Workshopteilnehmer, besonders der oberste Chef, waren sehr erstaunt über diese Geschichte. Niemand hat diesem unscheinbaren Lagerarbeiter so etwas zugetraut. Auch er sah sich selber „nur“ als Lagerarbeiter, der zwar einen guten Job machte, aber für sich keine Aufstiegsperspektiven sah. An diesem Tag wurde sein Führungstalent erkannt und zwei Jahre später wurde er zum Lager-Chef befördert.
Hier geht es weiter zu Teil 2